Historische Entwicklung
Inhalt
- 1 Historische Entwicklung
- 2 Musikalische Merkmale
- 3 Traditionelle Instrumente und Klangfarben
- 4 Gesangsformen und Aufführungsstile
- 5 Regionale Varianten
- 6 Soziale Funktionen und Kontext
- 7 Notation, Sammlung und Forschung
- 8 Rezeption und Wirkung in Deutschland
- 9 Moderne Adaptionen und musikalische Fusionen
- 10 Erhalt, Vermittlung und zukünftige Perspektiven
- 11 Fazit und Ausblick
Die historischen Wurzeln der russischen Musik reichen tief in vorchristliche Zeiten zurück und sind eng mit den religiösen, rituellen und alltagspraktischen Bedürfnissen der ostslawischen Gemeinschaften verbunden. Archaische Lieder, epische Erzählungen (Byliny), Arbeitssongs und Beschwörungsrituale spiegeln eine Welt animistischer und schamanistischer Vorstellungen wider; Stimme und einfache Begleitinstrumente wie die Gusli dienten dabei sowohl dem Erhalt mündlicher Überlieferung als auch magisch-ritualen Funktionen. Viele dieser frühen Formen zeichneten sich durch freie Taktierung, wiederholende Melodiebögen und funktionale Textstrukturen aus, die eng an jahreszeitliche Zyklen, Lebensstationen und Gemeindefeste gebunden waren.
Mit der Christianisierung der Kiewer Rus (Ende des 10. Jahrhunderts) trat die byzantinische Kirchenmusik als dominanter kultureller Einfluss hinzu. Liturgische Gesänge, modale Tonsysteme und chantartige Gesangspraktiken (z. B. der znamenny chant) wurden eingeführt, ebenso Elemente der byzantinischen Notations- und Lehrtradition. Die kirchliche Musik brachte einerseits neue Repertoires und eine schriftliche Tradierung mit sich, andererseits kam es zu Spannungen zwischen kirchlicher Normierung und der weiterhin lebendigen profanen Folklore; Volkskultur und kirchlicher Kultus beeinflussten sich gegenseitig, ohne je ganz zu verschmelzen.
Im Laufe des Zarenreichs manifestierte sich eine deutliche Zweiteilung zwischen ländlichen und städtischen Musikformen. Auf dem Land blieben viele ältere, oft mehrstimmige Sangestraditionen, Ritualgesänge und traditionelle Instrumentalstile erhalten; hier wirkten Minimalisierung der Begleitung, kollektive Aufführungspraktiken und stark regional geprägte Idiome fort. In den Städten hingegen fanden Begegnungen mit Handel, höfischem Zeremoniell und westlicher Kunstmusik statt: Adel und städtisches Bürgertum adaptierten europäische Instrumente, Formen und Notationsweisen, während reisende Spielleute (Skomorokhi) und professionelle Ensembles urbane Unterhaltungsmusik prägten. Diese Dichotomie führte zu einer reichen Diversität, gleichzeitig gefährdete die Urbanisierung traditionelle Praxisformen durch Akkulturation und Professionalisierung.
Ab dem 19. Jahrhundert verschoben sich Interessen und Praktiken erneut: einerseits wuchs ein nationales Bewusstsein, das traditionelle Melodien und Liedtexte als Bestandteil einer russischen Identität sammelte und in die Kunstmusik integrieren wollte; Komponisten wie Mikhail Glinka und später die „Mächtigen Fünf“ griffen Volksmaterial auf und behandelten es in Kunstkompositionen. Parallel dazu begannen systematische Sammlungen und Dokumentationsbemühungen durch Sammler und Folkloristen, die Lieder, Tänze und Melodien niederschrieben, transkribierten und publizierten. Diese Sammlungen trugen wesentlich zur Kanonisierung bestimmter Vorlagen bei, veränderten aber durch die Notation zugleich oft auch die ursprünglich mündlichen Aufführungsformen.
Im späten 19. und besonders im 20. Jahrhundert professionalisierten sich Forschung und Erhaltung weiter: Tonaufnahmen, breit angelegte ethnographische Expeditionen und institutionelle Sammlungen erleichterten die Archivierung und wissenschaftliche Analyse. Unter der Sowjetregierung erfuhr die Forschung eine doppelte Dynamik: staatlich geförderte Erhebungen und Institute systematisierten die Feldforschung und bauten große Sammlungen auf, gleichzeitig wurde Folklore ideologisch aufgeladen—als Ausdruck des „vollen Volkes“ sollte sie zum Aufbau einer neuen Gesellschaft instrumentalisiert werden. Das Ergebnis war eine beeindruckende Fülle an dokumentiertem Material, aber auch eine Tendenz zur Standardisierung und zur Schaffung professioneller Volkskunstensembles, die traditionelle Praktiken in konzertante Formen überführten.
Insgesamt zeigt die historische Entwicklung traditionelle russischer Musik eine dauerhafte Wechselwirkung zwischen Bewahrung und Wandel: archaische Reste blieben in ländlichen Gemeinschaften lebendig, kirchliche Einflüsse prägten Modalität und Liturgie, urbaner Einfluss und künstlerische Aneignung führten zu neuen Gestaltungen, und moderne Sammlungs- und Forschungstätigkeit hat zwar vieles gerettet und analysiert, aber auch Transformationsprozesse in Gang gesetzt, die bis heute das Bild der Tradition beeinflussen.

Musikalische Merkmale
Die traditionelle russische Musik ist grundlegend modal organisiert: statt der auf Terzverwandtschaft beruhenden dur‑moll‑Harmonik dominieren Kirchentonarten, pentatonische Skalen und lokal gefärbte modale Gebilde. Viele Volksmelodien basieren auf Tetrachorden und Skalen mit verminderten oder erhöhten Stufen (zum Beispiel erhöhte zweite oder erniedrigte sechste Stufe), sodass Melodien oft einen „modalen“ Charakter beibehalten, der weder eindeutig Dur noch Moll entspricht. Die byzantinisch geprägten chant‑Systeme (z. B. znamenny chant) haben langfristig die Tonalität religiöser sowie profaner Traditionen beeinflusst und führen zu charakteristischen finalen Formeln und Modalendungen.
Melodik ist häufig durch ausgeprägte Ornamentik und melismatische Gestalten gekennzeichnet: Vorschlagsnoten, kurze Läufe, Triller, Portamento und Nasal‑ oder „gehauchte“ Ansätze prägen die Stimme. Viele Lieder arbeiten mit wiederholten Motivzellen und Variationen innerhalb sich wiederholender Strophen, wobei jede Wiederholung durch kleine ornamentale Abwandlungen individualisiert wird. Die Phrasierung ist oft vokal atemgerecht, mit flexiblen, ungeraden oder durch Atempausen bestimmten Phrasenlängen; in Klage‑ und Ritualgesängen treten lange melismatische Durchführungen ohne festen Puls auf.
Rhythmisch zeigt die Tradition sowohl freie Taktierung als auch strikte Tanzmetriken: Lamentationen, Gebets‑ und MancheGesänge folgen einer freien, sprechenden Rhythmik, während Tänze und Arbeitslieder klare, oft betonte Metriken (z. B. einfache Zweier‑, Dreier‑ und zusammengesetzte Takte) aufweisen. Regionale Besonderheiten führen zu unterschiedlichen Betonungsmustern und zu rhythmischer Komplexität im Süden und in kaukasischen Einflüssen, wo ungerade und asymmetrische Muster häufiger vorkommen. Wiederholungen, Call‑and‑Response‑Elemente und synkopenbildende Akzentverschiebungen sind in Tanzmusik und Gesangsgruppen weit verbreitet.
Die Harmonik traditioneller Aufführungen ist primär linear und drone‑basiert: Bordune (Drones) und gleichbleibende Bass‑ oder Begleittöne sind charakteristische Begleitmittel, die eine statische, modal gefärbte Klangfläche erzeugen. Begleitmuster arbeiten häufig mit offenen Quinten und Quartintervallen; Parallelbewegungen in Quinten, Quarten oder auch Terzen treten in Ensemblezusammenhängen auf und werden nicht als „regelhafte Harmonisierung“ im westlichen Sinn, sondern als klangliche Verdichtung verstanden. Heterophonie — simultane, leicht variierte Versionen derselben Melodie — ist ein gängiges Texturbild, ebenso ostinato‑artige Begleitfiguren bei Zupf‑ und Tasteninstrumenten (gusli, Balalaika, Bayan), die Rhythmus und Form stabilisieren. Funktionale, akkordorientierte Harmonik setzte sich erst mit der Verbreitung städtischer Musiktheorie und dem Einfluss der Kunstmusik im 19. Jahrhundert stärker durch.
Insgesamt ergibt sich ein musikalisches System, das auf melodischer Führung, texturaler Vielfalt und rhythmischer Flexibilität beruht: Tonmaterial und Phrasierung folgen oft archaischen Modellen, Begleitung und Satztechniken schaffen durch Bordune, Parallelen und Heterophonie dichte Klangräume, während ornamentale Praxis und freie Rhythmik die expressiven Möglichkeiten der Stimmen erweitern.
Traditionelle Instrumente und Klangfarben
Die Klangwelt der traditionellen russischen Musik ist stark durch eine charakteristische Instrumentenpalette geprägt, deren Formgebung, Spielweise und Klangfarben über Jahrhunderte herausgebildet wurden und eng mit ländlicher Lebenswelt, Ritualen und Gesangsformen verwoben sind. Saiteninstrumente, Blasinstrumente, tastengetriebene Akkordeons und eine Reihe percussiver bzw. nicht-westlicher Klangquellen bilden gemeinsame Farbtupfer, die in unterschiedlichen Kombinationen sowohl Solorepertoire als auch Begleitung von Tanz und Gesang liefern.
Zu den emblematischen Saiteninstrumenten gehören Balalaika, Domra und Gusli. Die Balalaika mit ihrem dreieckigen Korpus und meist drei Saiten bietet eine helle, durchdringende Klangfarbe; sie existiert in mehreren Größen (Prima, Sekunda, Alto, Bass, Kontrabass) und deckt sowohl melodische als auch rhythmisch-perkussive Aufgaben ab — das schnarrende Anschlagen der Saiten ist typisch für Tanzbegleitung. Die Domra, ein rundbauchiges, meist dreisaitiges bzw. viersaitiges Zupfinstrument mit hellen, klaren Obertönen, war lange in Vergessenheit geraten und wurde im 19. Jh. im Zuge der Nationalbewegung reaktiviert; sie dient häufig zur virtuosen Melodieführung. Die Gusli, eine verwandt mit Zithern und Harfen, existiert in mehreren Bauformen (u. a. flügel‑ bzw. schiffchenförmig oder helmförmig) und erzeugt durch Schlagen oder Zupfen eine schimmernde Begleitung mit starken Dronen-Charakteren; im Erzählgesang (byliny) begleitet die Gusli oft die Epikinterpretation und schafft dabei einen ruhigen, resonanten Teppich.
Blas‑ und Holzblasinstrumente liefern die nasalen, manchmal scharfen Klangschichten, die in Volksmusik und Ritualen sehr präsent sind. Die Zhaleika ist eine einfache Rohrblattpfeife mit einem singenden, leicht „buckeligen“ Ton, die in solistischen Improvisationen oder als Tanzmelodieinstrument verwendet wird. Weitere Typen wie Svirel oder traditionelle Hörner (rozhok) ergänzen das Spektrum mit hohlen, klaren Flöten‑ und Hornklängen. Diese Instrumente sind in der Regel aus einheimischem Holz oder aus Knochen gefertigt und werden oft mit regionalen Verzierungen versehen; ihre Tonbildung ist eng mit vokalen Artikulationsmustern verwandt, was die funktionale Kopplung von Gesang und Instrumentalspiel erklärt.
Tasten- und Akkordeoninstrumente, allen voran der Bayan (russisches Knopfakkordeon) und verschiedene diatonische Harmonikas (garmon), haben ab dem 19. Jahrhundert eine enorme Verbreitung gefunden. Der Bayan bietet durch seine Registervielfalt und den Akkordbass eine dichte, reiche Begleitung, die sowohl für Tanz‑ als auch für konzertante Bearbeitungen geeignet ist; er ersetzt in vielen Ensembles frühere Begleitinstrumente und erlaubt homophone, polyphone und rhythmisch getaktete Begleitmuster. Die Klangfarbe des Bayan ist warm, nasal und kraftvoll — ideal, um Melodien zu führen oder chorische Stimmen zu stützen.
Perkussion und nicht-westliche Klangquellen vervollständigen das Farbspektrum. Typische Schlaginstrumente sind Rahmen‑ und Schellen‑Tamburine (buben), Handtrommeln, Holzklappern wie die Treshchotka, sowie einfache Trommeln (baraban). Daneben wurden Geräuschquellen des Alltags (Holzlöffel, Eisenringe, Hufschläge) als rhythmische Elemente genutzt. In manchen Regionen treten auch schamanistische Instrumente (Rasseln, spezielle Trommeln) auf, die in rituellen Kontexten eine entscheidende, symbolisch aufgeladene Klangrolle einnehmen. Diese percussiven Klänge strukturieren Tanzrhythmen, markieren strophische Einsätze und liefern oft den motorischen Puls traditioneller Ensembles.
Spieltechniken und Ensemblepraxis betonen oft homophone Begleitung, dronartige Sustains und parallele Intervalle — typische Begleitmuster sind ostinate Basstöne, Akkordbrechungen und einfache Tremoli. Viele Instrumente sind darauf ausgelegt, Gesang zu unterstützen: die Balalaika und Domra liefern rhythmische Einwürfe und Antwortfiguren, die Gusli erzeugt Grundtöne und Arpeggien, während Bayan harmonisch ausfüllende Flächen bietet. Die Klangfarben sind bewusst kontrastierend: das metallisch‑hellige der Zupfinstrumente gegen das reiche, aerophone Timbre der Harmonika und das scharfe Profil der Rohrblattpfeifen.
Historisch und regional gibt es zahlreiche Variationen in Bauweise, Stimmung und Spielweise — Holzarten, Saitenmaterial (Darm, später Stahlsaiten), Konstruktionen und Verzierung spiegeln lokale Handwerkstraditionen. In der Moderne werden diese Instrumente sowohl in rekonstruierten historischen Formen als auch in überarbeiteten, oft verstärkten oder elektrifizierten Versionen gespielt; viele Ensembles kombinieren traditionelle Klangfarben mit zeitgenössischen Mitteln, um sowohl Authentizität als auch neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erreichen. Insgesamt ist das Instrumentarium der russischen Folkmusik nicht nur klanglich markant, sondern auch Ausdruck sozialer Funktionen: es trägt Tänze, Rituale und Erzählungen, schafft Gemeinschaftssound und ermöglicht sowohl einfache Begleitung als auch virtuose Präsentation.
Gesangsformen und Aufführungsstile
Die russische Gesangstradition umfasst eine große Bandbreite an Liedtypen, die sich in Funktion, Form und Stil deutlich unterscheiden. Zu den zentralen Volksliedtypen gehören strophische Lieder mit klaren Vers-Begleitungen, Arbeits- und Feldlieder, die oft einfache, wiederholende Refrains und rhythmische Phrasen zur Koordination gemeinsamer Tätigkeiten benutzen; Balladen und Erzähllieder (z. B. byliny), die narrative, oft recitativische Formen annehmen und von einzelnen Sängern vorgetragen werden; kurze, pointierte Couplets wie Chastushki, die humoristische oder satirische Inhalte verdichten; ferner Ritual- und Festlieder (Kolyadki, Shchedrivki, Hochzeitslieder, Klagegesänge), deren Text- und Melodiestruktur eng an Zeremonien und Jahresrhythmen gebunden ist. Viele dieser Typen sind strophisch organisiert und leben von Variationsfreiheit in Melodie und Text, wodurch Kontext und Interaktionsform (z. B. Antwortchor, Solopart) mitbestimmt werden.
Der Gegensatz Monodie versus Mehrstimmigkeit ist ein zentrales Merkmal der russischen Gesangspraxis. Viele profane Gemeinschaftslieder werden monodisch oder heterophon vorgetragen: eine Hauptmelodie mit variierenden Nebenstimmen oder freien ornamentalen Abwandlungen mehrerer Sänger zugleich. In Nordrussland und bei Pomoren findet sich ausgeprägte mehrstimmige Polyphonie mit parallelen Stimmen und eigenständigen Gegenstimmen (podgoloski), oft ohne westliche Harmonisierungsprinzipien. Formen echter kontrapunktischer Mehrstimmigkeit sind seltener; häufiger sind Drones (Bordun), parallele Terzen, Quarten oder Quinten und heterophone Überlagerungen, die einen vielstimmigen Klang ohne funktionale Akkordprogression erzeugen. Kirchliche Traditionen (z. B. znamenny chant) bleiben überwiegend monodisch, während in städtischen und neueren Ensembleformen auch westlich geprägte Mehrstimmigkeit auftritt.
Die Kirche stellt mit dem znamenny chant und anderen orthodoxen Gesangsformen einen markanten Kontrast zu profanen Stilen dar. Znamenny chant ist modal, melismatisch und streng monophon, ursprünglich an neumenähnliche Notationssysteme gebunden; sein Vortrag erfolgt in Liturgie und gebundenen Ritualen, oft antiphonal zwischen Chorpartien. Profane Formen dagegen sind funktional offener: Arbeitslieder dienen der Produktivität und Synchronisation, Liebes- und Hochzeitlieder folgen dramatischen und symbolischen Mustern, Trauergesänge (plach) nutzen wiederkehrende motivische Gesten zur emotionalen Verdichtung. Außerdem existieren historische Vermittlungsschichten—zum Beispiel die Skomorokhi- und Bardenpraktiken—die Rezitation, Musik und Schauspiel verbanden und damit eine fluidere Grenze zwischen sakralem und säkularem Vortrag schufen.
Performative Aspekte sind integraler Bestandteil der russischen Gesangskultur: Improvisation und Variabilität sind bei vielen Liedtypen normal, Sängerinnen und Sänger passen Melodie, Ornamentik und Textformulierungen dem Anlass an oder improvisieren Refrains. Responsoriale Formen (Wechselgesang, Call-and-Response) treten besonders in Arbeitsliedern, Tanzrefrains und Festformen auf und strukturieren Interaktion zwischen Solist und Gruppe. Gestik, Choreographie (z. B. beim Khorovod, dem Kreis- oder Tanzgesang) sowie performative Markierungen wie rhythmisches Klatschen, Stampfen oder instrumentale Interjektionen sind häufig und dienen sowohl musikalischer Gestaltung als auch sozialer Kommunikation. Schließlich prägen stimmbildnerische Techniken — von offenem, hell klingendem „weißem“ Stimmeinsatz bis zu nasalen oder rauen Timbres — den Ausdruckscharakter regionaler Stile; in schamanistischen Kontexten und bestimmten Ritualen treten zusätzlich vokale Spezialeffekte und lange, improvisierte Gesangssequenzen auf, die außerhalb des musikalischen Rahmens eine spirituelle Funktion erfüllen.

Regionale Varianten
Im Norden Russlands, besonders in den historischen Regionen um Weißes Meer, Karelien und Pomorje, ist eine starke Tradition mehrstimmigen Gesangs überliefert. Dort finden sich oft diaphone Strukturen, Bordun‑ oder Drohnenklänge und parallele Stimmen, die in enger Interaktion zueinander stehen; Intervalle und Schichtungen, die westlicherstimmiger Harmonik fremd erscheinen, werden bewusst eingesetzt. Die Gesänge begleiten sowohl Alltagsarbeiten als auch rituelle Handlungen; Instrumentale Begleitung ist meist sparsam, stattdessen dominieren vokale Texturen. Viele der alten Heldenepen (Byliny) und Sammelüberlieferungen entfalten sich in dieser Region, was zur Erhaltung archaischer melodischer und rhythmischer Merkmale beigetragen hat. Durch die relative Isolierung entfalteten sich lokale Varianten, etwa spezielle Stimmführungen oder rhythmische Verschiebungen, die bis in die Feldforschungsaufnahmen des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich werden.
Das zentrale Russland bildet das weithin repräsentative Bild der russischen Dorfmusik: strophische Volkslieder, Tanzformen wie Khorovod‑ und Plyaska‑Tänze, sowie lebhafte Chansons und kurze scherzhafte Reime (Chastushki). Melodien sind häufig modal, einfach gebaut und eng an den Text gebunden; Instrumente wie Balalaika, Domra und die Gusli treten hier in verschiedenen Besetzungen auf, ergänzt durch Bayan oder Akkordeon in späteren Zeiten. Zentralrussische Lieder besitzen eine starke soziale Vernetzung — sie dienen Arbeit, Festen und Gemeinschaftssingen — und zeichnen sich durch klare metrische Muster aus, die sich gut zur choreografischen Begleitung eignen. Regionale Unterschiede innerhalb Zentralrusslands sind weniger radikal als zwischen Nord und Süd, zeigen sich aber in Stilistik, Repertoire und Ausprägung von Improvisation und Tanzrhythmen.
Im Süden Russlands und in den Kaukasus‑Gebieten mischen sich slawische Traditionen mit den reichen musikalischen Praktiken kaukasischer und zentralasiatischer Völker. Charakteristisch sind dort oft komplexere Rhythmik (unregelmäßige Taktarten oder synkopische Muster), markante Ornamentik und eine stärkere Betonung solistischen Ausdrucks — sowohl bei Gesangsstimmen als auch bei Blas‑ und Saiteninstrumenten. Kossakenlieder (z. B. Kuban‑Repertoire) zeigen kraftvolle Männerchöre, weite melodische Sprünge und call‑and‑response‑Formen; georgische, armenische oder aserbaidschanische Einflüsse bringen eigenständige Polyphonien, Mikrointervallik und andere Stimmtechniken ein. Diese Region ist dadurch ein Schmelztiegel, in dem ethnische Grenzräume zu besonders lebendigen, hybridisierten Musikformen führen.
Sibirien und die nördlichen indigenen Völker bewahren andere, oft rituell geprägte Klangwelten: Schamanistische Lieder, Trommelrituale, und vokale Techniken, die Natur‑ und Tierstimmen nachahmen. In Teilen Sibiriens, vor allem bei tuwinischen, altaiischen und yakutischen Kulturen, hat sich die Obertongesangstradition (Khomus/Khöömei und verwandte Praktiken) herausgebildet, die weltweit besondere Aufmerksamkeit erregt. Zugleich existieren epische Erzähltraditionen, Weide‑ und Jagdlieder, die sprachliche und melodische Eigenheiten der jeweiligen Völker tragen. Instrumentation und Aufführungspraktiken sind stark an Lebensumstände (z. B. Rentierhaltung, Nomadismus) gebunden; die Forschung betont die Bedeutung kontextbezogener Dokumentation, weil viele dieser Praktiken durch Modernisierung und Sprachwandel bedroht sind.
Soziale Funktionen und Kontext
In der traditionellen russischen Musikkultur sind Lieder und musikalische Praktiken eng mit konkreten Lebensvollzügen und Alltagsabläufen verknüpft; sie sind weniger autonome Kunstwerke als funktionale Handlungsweisen, die soziale Prozesse strukturieren, Erinnern leisten und kollektive Identität stiften. Arbeitssongs begleiteten Feld-, Holzfäller- und Flößertätigkeiten, halfen Rhythmus und Koordination herzustellen und verkürzten die Arbeitserfahrung. Solche Arbeitslieder (polevye pesni, plavanye pesni u druzhiny plavannika) kennzeichnen sich oft durch repetitiven, metrisch gebundenen Vortrag, call‑and‑response‑Formen und einfache, einprägsame Refrains, die kollektives Mitsingen erleichtern. Daneben existierten kurze, pointierte Chastushki—humoristische oder satirische Couplets—die in Pausen und bei Festen soziale Spannungen kanonisch entluden.
Fest- und Ritualmusik durchzieht den Jahres- und Lebenszyklus: Kirchliche und profane Lieder markierten Weihnachts‑ und Neujahrsbräuche (kolyadki), Frühlings‑ und Fruchtbarkeitsrituale (Lieder zum Ivan‑Kupala), das Erntedank‑ und Erneuerungsrepertoire ebenso wie Hochzeits‑ und Totenrituale. Svadebnye pesni (Hochzeitslieder) begleiten die einzelnen Stationen der Hochzeit mit spezifischen Melodien, Texttypen und choreographierten Handlungen; sie regeln Rollen, Erwartungen und ökonomische Transfers zwischen Familien. Bei Trauerzeremonien spielen Klagelieder (prichitalnye pesni, płeč) eine zentrale Rolle: die weiblichen Trauernden intonieren oft langsame, melismatische Klagen, die nicht nur Expressivität zeigen, sondern die soziale Ordnung nach Verlust stabilisieren. Viele dieser Rituale sind performativ kodiert: Melodie, Text und Gestik bilden ein integrales Kommunikationssystem, das Gemeinschaft und Bedeutung re‑konstituiert.
Erzähl‑ und Historienlieder (bytliny, byliny und lange epische Gesänge) fungierten als kollektives Gedächtnis: sie bewahrten historische Fragmente, mythische Narrative und lokale Heldenlegenden, vermittelten normative Modelle von Mut, Ehre und sozialer Ordnung. Solche Liedformen waren Lehrtexte und Unterhaltungsmedien zugleich, oft vokal vorgetragen von professionellen Erzählern oder singenden Laienspielern und in langen, strophischen Formen überliefert. Auch balladenhafte Erzählungen und sog. “worked songs” transportierten Wissen über Techniken, Ortsnamen und Ahnen—eine orale Archivfunktion, die in weitgehend analphabetischen Gemeinschaften von besonderer Bedeutung war.
Musik diente darüber hinaus als zentraler Identitätsmarker und politisches Ausdrucksmittel. Regionale Stile, spezifische Melodien und Instrumentalformationen markierten Zugehörigkeit zu Dorf, Region, Ethnie oder sozialen Gruppen; Trachten‑ und Liedrepertoires konnten Herkunft und Status sichtbar machen. In politischer Hinsicht wurden Volkslieder sowohl als Legitimationsmittel (z. B. in nationalen Erneuerungsbewegungen des 19. Jahrhunderts) als auch als Protestform genutzt: satirische Chastushki, Arbeiterlieder und später revolutionäre Hymnen reflektierten soziale Spannungen und mobilisierten Kollektive. Im 20. Jahrhundert instrumentalisierten staatliche Institutionen das Repertoire zwecks Nationallaborierung, sammelten, notierten und arrangierten Volksmusik für Konzerte, wodurch traditionelle Formen zugleich prestigeträchtig und ideologisch kontaminiert wurden.
Die soziale Funktion von Musik zeigt sich auch in der Art der Aufführung: häufige Settings sind kollektives Singen am Feuer, bei Feldarbeit, in Haushalten oder während ritueller Prozessionen; solistische, rollengetrennte oder call‑and‑response‑Strukturen verteilen kommunikativen Raum. Gender‑spezifische Ausprägungen sind verbreitet—bestimmte Gesangsformen, Tänze oder Rituale waren Frauen, andere Männer vorbehalten—und spiegeln soziale Arbeitsteilung und symbolische Ordnungen wider. Schließlich ist zu beachten, dass Modernisierung, Urbanisierung und politische Eingriffe die Funktionen verändert haben: viele Lieder wurden in neue Kontexte transferiert, ihre rituale Funktion schwächte sich, doch in Revival‑Szenen und Festivitäten werden sie heute häufig bewusst reaktiviert, um Kontinuität, Regionalität und kulturelle Resilienzen zu behaupten.
Notation, Sammlung und Forschung
Die Erforschung und Überlieferung traditioneller russischer Musik ist durch ein Nebeneinander von privaten Sammelaktivitäten, kompositorischer Nutzung, institutioneller Forschung und technischen Neuerungen geprägt. Bereits im 19. Jahrhundert begannen Komponisten und Musikliebhaber, Volkslieder systematisch zu sammeln und für Kunstmusik zu adaptieren; Namen wie Mikhail Glinka oder Mily Balakirev stehen für eine frühe Sammel- und Bearbeitungspraxis, Vasily Andreyev für die Institutionalisierung und Popularisierung instrumentaler Volksmusik (Balalaika‑Orchester, Publikationen). Mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert entstanden an Universitäten, Museen und in ethnographischen Instituten organisierte Expeditionen, die neben Transkriptionen auch Tonträgeraufnahmen anlegten; in der Sowjetzeit wurden diese Aktivitäten weiter professionalisiert und zentralisiert, wobei musikwissenschaftliche Zugänge (u. a. durch Figuren wie Boris Asafiev) Theorie, Feldforschung und Editionspraxis verbanden.
Die Notation traditioneller Musik stellt besondere methodische Herausforderungen. Westlich standardisierte Notenschrift bildet oft weder mikrotonale Nuancen noch die dichte Ornamentik, freie Metrik oder sprechstimmliche Elemente vollständig ab. Sammler und Herausgeber mussten daher Ergänzungen erfinden: ausführliche Artikulations- und Ornamentzeichen, metrische Kommentare, alternative Tonbezeichnungen oder phonetische Transkriptionen der Texte. Problembereiche sind u. a. die Reduktion flexibler Zeitlichkeit auf starre Taktmaße, das Weglassen von Improvisationsmomenten, die Vereinheitlichung variabler Strophenversionen sowie die Tendenz, performative Praktiken durch Harmonisierung und Arrangieren in eine „kunstmusikalische“ Form zu zwingen. Solche Eingriffe verändern nicht nur die Notation, sondern häufig auch die spätere Rezeption der Lieder und Instrumentalstücke. Moderne Forschungsmethoden setzen deshalb auf die Kombination von möglichst originalgetreuen Audio‑ und Videoaufnahmen mit kommentierter Notation und ausführlichen Kontextdaten.
Archive und Feldaufnahmen sind heute zentrale Quellen für die Musikwissenschaft. Früh eingesetzte Trägermedien reichten von Wachszylinder und Schellackplatte bis zu Magnetband; viele dieser historischen Bestände lagern in staatlichen Sammlungen, Museen und Universitätsarchiven (z. B. Sammlungskonvolute in der Kunstkamera, in zentralen Musikmuseen und Rundfunkarchiven). Die wissenschaftliche Arbeit umfasst Katalogisierung, kritische Editionen, digitalisierende Erschließung und die Ergänzung um ethnographische Metadaten (Ort, Datum, Kontext, Biographien der Sängerinnen und Sänger, Aufnahmebedingungen). In den letzten Jahrzehnten haben Digitalisierung und digitale Tools (hochauflösende Audio‑/Videoaufnahme, Datenbanken, spektrale Analysen mit Software wie Sonic Visualiser) die Forschung stark erweitert; zugleich entstehen zunehmend partizipative Projekte, bei denen Gemeinden, Laienensembles und Nachfahren der Überlieferer in die Dokumentation und Erschließung eingebunden werden.
Methodisch gesehen ist die aktuelle Forschung interdisziplinär: sie kombiniert historische Quellenkritik, vergleichende Transkriptionspraxis, akustische Analyse, ethnographische Feldarbeit und partizipative Archivpflege. Wichtige Forschungsfragen betreffen die Rekonstruktion variabler Performance‑praktiken, die kritische Edition von Liedtexten und Melodien, die Aufarbeitung politisch geprägter Sammeltraditionen (etwa sowjetische Ideologisierung) und die Entwicklung ethischer Standards für Aufnahme, Speicherung und Zugänglichmachung. Nachhaltige Dokumentation verlangt, dass notierte Musik immer mit Originalaufnahmen und ausführlichen Kontextdaten verknüpft wird, dass Urheber- und Gemeinschaftsrechte beachtet werden und dass digitale Archive interoperabel und langfristig gesichert geführt werden.
Rezeption und Wirkung in Deutschland
Die Rezeption traditioneller russischer Musik in Deutschland ist vielschichtig und hat sich über zwei Jahrhunderte unter wechselnden politischen und kulturellen Vorzeichen entwickelt. Schon im 19. Jahrhundert weckte die romantische Hinwendung zum Volkstümlichen und die Suche nach „nationalem Klang“ Interesse an russischen Melodien und Tänzen; Opern, Ballette und Orchesterwerke mit russischen Themen trugen zur Popularisierung bei und prägten das Bild von Russland als musikalisch markante Kultur. Im 20. Jahrhundert wurde die Wahrnehmung durch politische Bruchlinien beeinflusst: während der Zwischenkriegs- und der Sowjetzeit bestimmten sowohl staatlich geförderte Tourneen großer Ensembles als auch Emigrationskulturen bestimmte Bilder und Klänge, im vereinten Deutschland seit den 1990er-Jahren haben Migration und Globalisierung die Szene weiter diversifiziert.
Auf Komponisten und die Konzertpraxis wirkte die russische Volksmusik auf mehreren Ebenen: Melodien, rhythmische Figuren und modale Färbungen dienten als Inspirationsquelle für Orchester- und Bühnenwerke, Arrangements von Volksliedern fanden Eingang in Chorrepertoire und Salonprogramme, und Tänze bzw. Instrumentalstücke wurden in Konzertsäle übernommen. Ballette des russischen Repertoires sind bis heute fester Bestandteil des deutschsprachigen Spielplans, und die Popularität einzelner Liedgestalten („Kalinka“, „Katyusha“ u.ä.) hat dazu geführt, dass russische Volksmelodien regelmäßig in Programmen, Filmmusik und in der Unterhaltungskultur auftauchen. Gleichzeitig hat die Auseinandersetzung mit „Authentizität“ die Praxis beeinflusst: historisch-informierte Aufführungspraxis, Verwenden traditioneller Instrumente und die Zusammenarbeit mit russischen Interpreten prägen inzwischen Konzertproduktionen.
Die russische Diaspora in Deutschland ist ein wichtiger Träger lebendiger Praxis: kirchliche Gemeinden, Amateur- und semi-professionelle Chöre, Balalaika- und Folkloreensembles sowie Festivals tragen zur Sichtbarkeit traditioneller Musiken bei. Nach 1917 begründete Emigration eigene Vereinsstrukturen, nach 1990 verstärkten japanische, russlanddeutsche und andere Migrationswellen das Angebot an russischer Musik vor Ort. Öffentliche Auftritte großer sowjetischer Ensembles bei früheren Kulturveranstaltungen sowie das heutige Engagement von Gastensembles und Einzelkünstlern haben Publikumsschichten angesprochen, die sonst wenig mit russischer Tradition in Berührung kämen. Festivals, städtische Kulturzentren und private Initiativen bieten regelmäßige Aufführungs- und Austauschplattformen.
Wissenschaftlich besteht in Deutschland ein breites Feld an Kooperationen und Forschungsaktivitäten zur russischen Volksmusik. Ethnomusikologische Sammlungen, Feldaufnahmen und musikwissenschaftliche Institute betreiben vergleichende Studien, Editionsprojekte und Digitalisierungen; Austauschprogramme, Konferenzen und gemeinsame Projekte mit russischen Forschungseinrichtungen fördern den Wissenstransfer. Archive und phonografische Bestände in deutschen Instituten bilden wichtige Quellen für historische Untersuchungen, und partizipative Projekte mit Communities tragen zur Dokumentation lebender Traditionen bei. Zugleich gibt es methodische Debatten — etwa zu Notationsfragen, kontextueller Interpretation und zur Rolle politischer Einflüsse bei der Sammlung — die die Forschung weiter prägen.
In der Gesamtschau zeigt sich, dass russische traditionelle Musik in Deutschland sowohl als ästhetische Ressource für Kunstmusik und populäre Formen dient als auch als lebendiger Ausdruck migrantischer Identitäten und kulturpolitischer Beziehungen. Die Rezeption ist geprägt von Faszination, gelegentlicher Stereotypisierung und zugleich ernsthaftem wissenschaftlichem und künstlerischem Austausch; die gegenwärtige Herausforderung besteht darin, diese Vielfalt sichtbar, kritisch reflektiert und nachhaltig forschend zu begleiten.
Moderne Adaptionen und musikalische Fusionen
Moderne Adaptionen traditioneller russischer Musik zeigen eine große Bandbreite: von revivalistischen Bestrebungen, die traditionelle Praxis möglichst authentisch rekonstruieren wollen, bis zu radikalen Fusionen, die Folkelemente mit Pop, Rock, Elektronik oder Avantgarde koppeln. In den 1990er und 2000er Jahren entstanden in Russland und bei Diaspora‑Musikern projekthafte Neofolk‑ bzw. Folktronica‑Formationen, die alte Melodien, Strophenformen und Instrumentenklänge mit Sampling, Synthesizern und modernen Produktionsstandards kombinierten. Solche Projekte haben einerseits zur Sichtbarkeit und Popularisierung regionaler Repertoires beigetragen, andererseits Debatten über Authentizität und Kommerzialisierung ausgelöst.
Die Integration in Pop, Rock und elektronische Musik ist besonders auffällig: Folk‑Melodien und -Rhythmen werden als melodische oder textliche Motive in Songwriting übernommen, traditionelle Instrumente wie Balalaika, Domra oder Bayan werden elektrisch verstärkt oder durch Samples ersetzt, und vokale Techniken (z. B. bestimmte Ornamentiken oder Kehlgesang aus sibirischen Traditionen) finden Eingang in völlig neue Klangkontexte. Genres wie Folk‑Metal oder World‑Music‑Rock (Beispiele aus russischen Szenen: Archaische bzw. pagan‑metal‑Bands, experimentelle Weltmusik‑Acts) demonstrieren, wie kraftvoll diese Kombinationen sein können: sie schaffen dichte, oft dramatische Arrangements, die zugleich populäre Konzertformate bedienen.
Cross‑over‑Projekte zwischen traditionellen Ensembles und zeitgenössischen Künstlern sind ein weiterer wichtiger Bereich. Musiker aus konservatorischen und ethnomusikologischen Kreisen arbeiten mit Komponisten, DJs, Produzenten und Choreographen zusammen, um neue Ausdrucksformen zu schaffen — vom Orchesterarrangement eines Dorfgesangs bis zur elektroakustischen Transformation von Ritualklängen. International erfolgreiche Beispiele aus dem weiteren russischsprachigen bzw. sibirisch‑zentralasiatischen Raum (z. B. Ensembles mit Tuvanischem Kehlgesang, Kooperationen mit Jazz‑ und Elektronikmusikern) zeigen, dass solche Begegnungen sowohl künstlerisch bereichernd als auch vermarktbar sind.
Medien, Film und zeitgenössische Choreographie fungieren als wirkmächtige Vermittlungsflächen: Film‑ und Fernsehproduktionen nutzen traditionelle Themen und Motive, um Atmosphäre und kulturelle Tiefe zu erzeugen; Tanz‑ und Theaterensembles adaptieren folkloristische Bewegungs- und Gesangsformen für die Bühne. Gleichzeitig steigern Streamingplattformen, Social Media und YouTube die Reichweite lokaler Performances und ermöglichen neue Partizipation — von DIY‑Videos regionaler Sängerinnen bis zu internationalen Kollaborationen über Distanz. Solche Mediennutzungen verändern aber auch die Rezeptionsbedingungen: Musik wird fragmentiert, Loops und Hooks treten neben längere narrative Liedformen.
Diese Entwicklungen bringen Chancen und Risiken mit sich. Positiv wirken die Wiederbelebung vergessener Lieder, die finanzielle und soziale Anerkennung für Praktikerinnen und Praktiker sowie eine breitere öffentliche Wahrnehmung. Kritisch sind die Tendenzen zur Simplifizierung, Ökonomisierung und Entkontextualisierung: Rituallieder oder dargebotene Gesangstechniken verlieren mitunter ihre soziale Verankerung, wenn sie als „Exotik“ oder bloße Stilmittel exportiert werden. Zudem stellen Fragen der Urheberschaft, fairen Vergütung und respektvollen Zusammenarbeit zwischen urbanen Produzenten und ländlichen/oder indigenen Quellen sich immer drängender.
Für die Zukunft zeichnet sich eine Zweiteilung ab: Einerseits professionelle, oft stadtkulturell verankerte Fusionen, die neue künstlerische Horizonte eröffnen; andererseits basisnahe Revival‑ und Bildungsprojekte, die versuchen, Überlieferungszusammenhänge zu erhalten und Wissen transferierbar zu machen. Nachhaltige Praxis erfordert interdisziplinäre Kooperationen — zwischen Ethnomusikologie, Aufführungspraxis, Archivarbeit und Produzenten — sowie transparente, partizipative Modelle, die Herkunftsgemeinschaften in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Insgesamt bleibt die moderne Adaption traditioneller russischer Musik ein dynamisches Feld, das Kreativität, Identitätsfragen und ökonomische Realitäten in enger Wechselwirkung verhandelt.
Erhalt, Vermittlung und zukünftige Perspektiven
Der Erhalt und die Vermittlung traditioneller russischer Musik erfordern ein integratives Vorgehen, das sowohl die Bewahrung akustischer Überlieferung als auch die Stärkung lebendiger Praxisgemeinschaften in den Blick nimmt. Zentrale Maßnahmen sind Bildung und lokale Ensemblesarbeit ebenso wie zeitgemäße Digitalisierungs‑ und Dokumentationsstrategien: in Schulen, Musikschulen und Kulturzentren sollten Lehrpläne und Projekte Platz für traditionelle Repertoires finden, Meister‑Schüler‑Formate und regelmäßige Proben ernennen, und lokale Ensembles erhalten Förderung, damit Wissen nicht nur als Archivgut, sondern als praktizierte Fertigkeit weitergegeben wird. Community‑Projekte, die Bewohnerinnen und Bewohner aktiv einbeziehen — etwa generationenübergreifende Workshops, Dorf‑Archivtage oder Kooperationen mit Diaspora‑Gruppen — stärken Identität und sichern die gesellschaftliche Relevanz der Traditionen.
Die Digitalisierung eröffnet große Chancen, verlangt aber zugleich Standards und ethische Regeln. Ton- und Videoaufnahmen sollten in verlustfreien Formaten mit sorgfältiger Metadatenpflege (Kontextinformationen, Performerbiographien, Entstehungszusammenhang) archiviert werden; Langzeitverfügbarkeit erfordert redundante Speicherung in institutionellen Repositorien und Kooperationen mit nationalen Archiven oder Universitätsbibliotheken. Open‑Access‑Strategien erleichtern Forschung und partizipative Nutzung, müssen aber mit klaren Regelungen zu Rechten, Einverständniserklärungen und benefit sharing verbunden werden, um die Interessen der jeweiligen Gemeinschaften zu schützen. Partizipative Dokumentationsprojekte, bei denen Traditionshalterinnen und -halter an Kuration und Metadatengestaltung beteiligt werden, erhöhen die Qualität und Legitimität der Archive.
Gleichzeitig bestehen erhebliche Herausforderungen: Globalisierung und kommerzielle Aneignung führen zu Vereinfachung und Stereotypisierung, Sprachverlust und Urbanisierung schwächen die Überlieferungsströme, und viele Traditionsträger sind altersbedingt gefährdet. Gegen diese Entwicklungen helfen gezielte Maßnahmen wie niederschwellige Bildungsangebote für junge Menschen, Stipendienprogramme für junge Interpretinnen und Interpreten traditioneller Praktiken, Residenzen für Forscher und Künstler in ländlichen Regionen sowie musikalische Vermittlungsformate (z. B. Festivals, Mitmach‑Konzerte), die Wahrnehmung und Wertschätzung steigern.
Für eine nachhaltige Erhaltungsstrategie sind mehrere Handlungsfelder wichtig: finanzielle Absicherung durch öffentliche Förderprogramme und private Stiftungen; institutionelle Kooperationen zwischen Museen, Hochschulen, Rundfunkanstalten und zivilgesellschaftlichen Organisationen; Ausbildung von Archivaren, Ethnomusikologinnen und Lehrkräften im Umgang mit Feldaufnahmen und digitalen Tools; sowie rechtliche Rahmenbedingungen, die kulturelles Erbe schützen, aber auch kreativen Austausch ermöglichen. Technologische Werkzeuge — Apps zur partizipativen Transkription, virtuelle Lernumgebungen, interaktive Karten von Liedverbreitung — können Zugänge für ein breiteres Publikum schaffen, sollten aber lokal verankert und benutzerfreundlich gestaltet werden.
Forschungsansätze für die Zukunft sollten interdisziplinär und partizipativ angelegt sein: kombinierte Methoden aus Ethnomusikologie, Linguistik, Digital Humanities und akustischer Analyse erlauben sowohl qualitative Kontextualisierung als auch quantitative Vergleichsstudien (z. B. Mustererkennung in Melodik und Ornamentik, Netzwerkstudien zur Verbreitung von Liedtypen). Längsschnittforschung kann Veränderungen im Repertoire und in Aufführungspraktiken dokumentieren; kollaborative Forschungsdesigns mit Communities sichern Relevanz und faire Ergebnisnutzung. Besondere Aufmerksamkeit verdienen indigene Praktiken und marginalisierte Gruppierungen, deren Rechte und Perspektiven aktiv berücksichtigt werden müssen.
Kurzfristig erreichbare Maßnahmen umfassen Aufbau lokaler Digitalarchive, Durchführung von Schulungsworkshops für Feldforschung und Performance, Initiierung von Austauschprogrammen zwischen russischen Gemeinden und deutschen Kulturinstituten sowie Pilotprojekte für partizipative, offene Sammlungen. Mittelfristig sollten nachhaltige Finanzierungsmodelle, verbindliche Standards für Dokumentation und Zugangsregelungen sowie ein Netzwerk von Erhaltungsakteuren etabliert werden. Langfristig zielt eine verantwortungsbewusste Strategie darauf ab, traditionelle russische Musik als lebendige Kulturpraktik zu bewahren — adaptiv, kontextsensibel und für nachfolgende Generationen zugänglich.
Fazit und Ausblick
Die Untersuchung traditioneller russischer Musik zeigt ihre bemerkenswerte Vielgestaltigkeit: ein Geflecht aus vorchristlichen Praktiken, kirchlichen Einflüssen, regionalen Stilen und instrumentalen Eigenheiten, das sich über Jahrhunderte hinweg dynamisch entwickelt hat. Historische Sammlungen, wissenschaftliche Aufarbeitungen und die fortgesetzte Praxis in ländlichen und städtischen Kontexten belegen sowohl die Kontinuität als auch die ständige Anpassungsfähigkeit dieser Musikkulturen. Melodische, rhythmische und performative Besonderheiten – von pentatonischen Elementen über mehrstimmige Gesangsformen bis zu spezifischen Instrumentenklängen – machen die Tradition zugleich zu einem reichen Forschungsfeld und zu einer lebendigen Ressource für zeitgenössische künstlerische Praxis.
Gleichzeitig stehen diese Traditionen vor konkreten Herausforderungen: Urbanisierung, Sprachverlust, mediale Kommerzialisierung und politische Umbrüche bedrohen Aufführungskontexte und die Weitergabe an jüngere Generationen. Methoden der Erfassung und Notation stoßen an Grenzen, wenn es darum geht, situative, gestische und partizipative Aspekte vollständig zu dokumentieren. Auch die Gefahr einer musealen Isolierung besteht, wenn Musik lediglich als Gegenstand akademischer Analyse statt als gelebte Praxis behandelt wird.
Die Perspektive für den Erhalt und die Weiterentwicklung traditionellen Repertoires liegt in einer Kombination aus Schutz, Vermittlung und lebendiger Innovation. Nachhaltige Maßnahmen sollten auf drei Ebenen ansetzen: erstens auf direkter Unterstützung der Trägerinnen und Träger – Ensembles, Musikerinnen und Musiker, Lehrende und Dorfgemeinden – durch Förderprogramme, faire Honorierung und Infrastruktur; zweitens auf Bildungs- und Vermittlungsarbeit in Schulen, Musikschulen und Community‑Projekten, die partizipative Weitergabe und kreative Auseinandersetzung fördern; drittens auf moderner Dokumentation und Forschung, die Open‑Access‑Archive, hochwertige Feldaufnahmen und interoperable Metadaten mit lokalen Kompetenzen und ethischen Standards verbindet.
Forschungsseitig empfiehlt sich eine verstärkte Interdisziplinarität: ethnomusikologische Feldforschung, historische Quellenkritik, digitale Geisteswissenschaften und klangtechnische Analysen können ein umfassenderes Bild liefern. Partizipative Ansätze, bei denen Gemeinden und Praktiker aktiv in Dokumentation und Interpretation einbezogen werden, erhöhen Relevanz und Legitimität. Internationaler Austausch — etwa zwischen deutschen Instituten, russischen Forschungseinrichtungen und Diaspora‑Ensembles — kann sowohl wissenschaftliche als auch kulturelle Vermittlungswege stärken.
Kulturell eröffnen sich Chancen durch zeitgenössische Adaptionen und Cross‑over‑Projekte: Fusionen mit Pop, Elektro oder zeitgenössischer Klassik sowie mediale Nutzung in Film und Tanz erhöhen Sichtbarkeit, müssen aber sensibel gestaltet werden, um Verwässerung und Aneignung zu vermeiden. Nachhaltiger Erhalt bedeutet, Innovationen zu ermöglichen, ohne die epistemische Autorität der Traditionsträger zu untergraben.
Insgesamt ist die Zukunft der traditionellen russischen Musik weder vorbestimmt noch ausweglos bedroht: mit gezielter Förderung, respektvoller Forschungspraxis, partizipativer Vermittlung und internationaler Kooperation lässt sich ein lebendiges Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Erneuerung gestalten. Solche Maßnahmen sichern nicht nur musikalisches Erbe, sondern tragen auch zur Vielfalt kultureller Ausdrucksweisen in einer globalisierten Welt bei.


