Russische Feste: Kategorien, Rituale und kulturelle Vielfalt
Einordnung und Kategorien Russische Feste lassen sich nicht starr in separate Schubladen einsortieren; sie bilden vielmehr ein dicht verflochtenes Geflecht aus religiösen Ritualen, vorchristlichen Bräuchen, staatlich-säkularen Feierformen und regional- bzw. ethnisch geprägten Festen. Zur Orientierung bietet sich eine grobe Kategorisierung an: erstens die orthodoxen Kirchfeste mit ihrem eigenen liturgischen Rhythmus und dem julianischen Kalender; zweitens traditionelle Volksbräuche und heidnische Jahreszeitenrituale, die oft bäuerliche Jahreszyklen und Fruchtbarkeitsvorstellungen widerspiegeln; drittens staatlich verankerte oder säkulare Feiertage, die politische Erinnerung und gesellschaftliche Mobilisierung zum Ausdruck bringen; viertens regionale und ethnische Festtage, die die kulturelle Vielfalt der zahlreichen Völker und Religionen innerhalb Russlands sichtbar machen. Wichtig ist, dass diese Kategorien häufig überlappen und sich gegenseitig durchdringen. Viele populäre Anlässe sind synkretisch: Kirchliche Feste haben folklorische Begleitbräuche aufgenommen (z. B. Weihnachtslieder und kulinarische Traditionen), staatliche Feiern integrieren religiöse oder volkstümliche Elemente, und ehemalige sowjetische Rituale wurden nach 1991 teils wieder kirchlich oder national umgedeutet. Auch der Wechsel zwischen julianischem und gregorianischem Kalender führt zu Doppelterminen oder verschobenen Feierdaten, was die zeitliche Einordnung zusätzlich verkompliziert. Anspruch, Funktion und Reichweite der Feste variieren stark: Manche Feierlichkeiten sind transnational und werden von der Mehrheitsgesellschaft groß begangen (Neujahr, 9. Mai), andere sind lokal oder konfessionell begrenzt (Dörfer mit eigenen Erntefesten, muslimische Nowruz-Feiern). Urbanisierung, Medien und Tourismus verändern die Ausdrucksformen – traditionelle Bräuche werden inszeniert, kommerzialisiert oder neu interpretiert –, gleichzeitig dienen Feste weiterhin als Mittel sozialer Integration, kollektiver Erinnerung und Identitätsstiftung auf individueller, regionaler und nationaler Ebene. Für ein tieferes Verständnis russischer Festkultur ist daher sowohl die Einordnung nach formalen Kategorien nützlich als auch die Beachtung ihrer dynamischen, historischen und sozialen Kontexte: Herkunft, Funktion, regionale Besonderheiten, politische Vorgeschichte (insbesondere sowjetische Prägungen) und gegenwärtige Anpassungsprozesse bestimmen, wie ein Fest erlebt, praktiziert und gedeutet wird. Religiöse Feste Die religiösen Feste in Russland sind überwiegend orthodox geprägt und verbinden liturgische Strenge mit vielfach sehr lebendigem Volksbrauchtum. Viele wichtige Festtage folgen dem julianischen Kalender, weshalb Orthodoxes Weihnachten in Russland auf den 7. Januar und die Taufe/Verklärung (Theophanie) auf den 19. Januar fallen; Ostern (Paskha) richtet sich nach dem beweglichen orthodoxen Osterdatum, das sich aus den alten Kirchenkalenderregeln ergibt. Für Gläubige sind diese Feiertage liturgische Höhepunkte: Vespern, nächtliche Vigilien, die Eucharistiefeier und Prozessionen bilden den formalen Kern, daneben gibt es ausgeprägte häusliche und dörfliche Rituale. Das orthodoxe Weihnachtsfest beginnt mit dem Heiligen Abend (Sochelnik/Sotschivo), an dem traditionell eine fleischlose Speise aus gekochtem Getreide (Sotschivo) gereicht wird; viele Familien fasten oder verkneifen sich vor dem Fest bestimmte Speisen. Der nächtliche Weihnachtsgottesdienst (Christmette) mit typischen Gesängen und Ikonenverehrung ist für praktizierende Christen zentral. Begleitend existieren volkstümliche Bräuche wie das Singen von Kolyadki (Weihnachtsliedern), Hausbesuche, Segenswünsche und das Aufsuchen beziehungsweise Zeigen besonderer Ikonen; das Küssen von Ikonen, das Entzünden von Kerzen und das Bitten um Haussegen sind verbreitet. Paskha (das orthodoxe Osterfest) ist liturgisch der wichtigste Feiertag des Jahres und steht am Ende der Großen Fastenzeit. Die Karwoche und die Osternacht sind geprägt von Buße, nächtlichen Gottesdiensten und der Paschalik (freudigen Gesängen). Zu den populären Festtraditionen gehören das Backen des Kulich (ein hoher, süßer Osterkuchen) und die Zubereitung der namensgebenden Paskha — einer quarkbasierten Form mit kandierten Früchten, oft in einer charakteristischen Form mit den kyrillischen Buchstaben „ХВ“ (Christus ist auferstanden). Bemalte, typischerweise rote Eier gelten als Symbol der Auferstehung; sie werden gesegnet, ausgetauscht und zum traditionellen „Eierschlagen“ verwendet. Die österliche Begrüßung „Christos voskres!“ und die Antwort „Voistinu voskres!“ sind Ausdruck der zentralen Botschaft und werden in der Bevölkerung weit über die Kirchgemeinde hinaus verwendet. Neben Weihnachten und Ostern prägen zahlreiche weitere kirchliche Feiertage den religiösen Kalender: Marienfeste wie das Schutzmantelfest (Pokrov), Festtage heiliger Personen, Tauf- und Weihegedenktage sowie lokale Heiligenfeste. Besonders traditionell sind nach wie vor die Namenstage (Imenniny), die in vielen Familien wichtiger begangen werden als Geburtstage. Epiphanie/Theophanie (Kreuzerhöhung und Beschneidung Christi in unterschiedlichen Ausprägungen) geht mit der Segnung des Wassers einher; die Praxis des Eislöchertauchens am 19. Januar ist in Russland sehr verbreitet, wobei die Gläubigen das kalte Wasser als reinigendes Sakrament erleben. Innerhalb der russisch-orthodoxen Welt gibt es Variation: Altgläubige, verschiedene orthodoxe Jurisdiktionen und andere christliche Konfessionen pflegen zum Teil abweichende Kalender, Riten und lokale Bräuche. Gleichzeitig haben viele Feste sowohl kirchliche als auch profane Dimensionen: manche Rituale sind stark folkloristisch durchdrungen, andere bleiben hauptsächlich liturgisch. Seit dem Ende der Sowjetzeit hat die kirchliche Präsenz und die öffentliche Sichtbarkeit religiöser Feste deutlich zugenommen; dennoch reicht die Bandbreite der Beteiligung von intensiv praktizierenden Gemeindemitgliedern bis zu kulturell geprägten, in erster Linie traditionell verbrachten Feiertagen in großen Teilen der Bevölkerung. Traditionelle Volksfeste und Jahreszeitenbräuche Die traditionellen Volksfeste und Jahreszeitenbräuche in Russland sind überwiegend heidnischen Ursprungs, wurden aber über Jahrhunderte mit christlichen Elementen verknüpft. Sie markieren den Rhythmus des ländlichen Jahres – den Wechsel der Jahreszeiten, das Ende bzw. den Beginn der Vegetationsperiode und wichtige Lebensübergänge – und verbinden gemeinschaftliche Rituale, Musik, Tanz und spezifische Speisen. Viele dieser Feste sind bis heute lebendig, wenn auch in unterschiedlicher Intensität: in Dörfern oft noch als integraler Bestandteil des sozialen Lebens, in Städten eher als folkloristische oder touristische Veranstaltungen. Die bekannteste Jahreszeitenwoche ist Masleniza (Maslenitsa), die sogenannte Butterwoche vor der großen Fastenzeit. Sie ist geprägt von ausgelassenen Gelagen mit Blini (Pfannkuchen) als Sonnen-Symbol, ausgiebigen Treffen mit Familie und Nachbarn, Schlittenfahrten, Volkswettkämpfen und Straßenunterhaltungen. Höhepunkt ist das Verbrennen einer Strohpuppe (Masleniza-Attrappe), die den Winter symbolisiert und mit dem Beginn des Frühlings vernichtet wird. Die Woche dient zugleich als Abschied vom Genuss vor der Enthaltsamkeit der Fastenzeit; regionale Nuancen zeigen sich in Programmen, Tänzen und lokalen Spielen. Die Ivan-Kupala-Nacht zur Sommersonnenwende vereint Feuer- und Wasserkulte: am Vor- bzw. Nachtabend des 24. Juni (je nach Region meist rund um den Sonnenwendezeitpunkt) werden Lagerfeuer entzündet, über die Paare springen, um Reinheit und Fruchtbarkeit zu erlangen. Junge Frauen flechten Blumenkränze, die ins Wasser gesetzt oder nachts zur Liebeslegung ausgelassen werden; Männer suchen die sagenhafte „Farnblüte“, deren Auffinden in der Legende zu Reichtum und magischer Erkenntnis führt. Die Rituale sind stark auf Fruchtbarkeit, Reinigung und die Verbindung von Natur- sowie Liebeszauber ausgerichtet und zeigen deutlich vorchristliche Wurzeln, die im Laufe der Zeit christliche Bezüge (z. B. zur Figur des Johannes) integriert haben. Zwischen Weihnachten und Epiphanias entfaltet sich mit Svyatki eine Zeit der Grenzüberschreitung: Maskenspiele, Kolyadki (Weihnachtslieder), Wahrsagen und das Besingen von Häusern gehören zu den traditionellen Aktivitäten. Diese Rauhnächte sind mit Aberglauben und Orakelpraktiken verbunden; junge Leute nutzen sie für Liebesorakel und spielerische Prophezeiungen über die Zukunft. Eng verwandt damit ist das Brauchtum des Alten Neujahrs (das nach dem julianischen Kalender am 14. Januar gefeiert wird), das heute oft als nostalgischer Anlass für Familienzusammenkünfte dient. Erntefeste und lokale Jahrmärkte feiern das Ende der Feldarbeit und die Dankbarkeit für die Erträge; sie sind regional stark variabel und werden in vielen Völkern Russlands durch eigene Bräuche ergänzt. In multiethnischen Regionen – etwa im Nordkaukasus, in Zentralrussland oder in Sibirien – verbinden sich slawische Traditionen mit tatarisch-baschkirischen, finno-ugrischen oder sibirisch-schamanistischen Elementen. Moderne Festivals greifen diese Formen auf, rekonstruieren alte Rituale oder gestalten sie als öffentliche Events mit Konzerten, Handwerksmärkten und kulinarischen Angeboten, wodurch traditionelle Bräuche zugleich bewahrt und neu interpretiert werden. Staatliche und säkulare Feiertage Staatliche und säkulare Feiertage prägen den russischen Jahreskalender sichtbar: viele sind arbeitsfreie Tage mit offiziellen Zeremonien, Medienpräsenz und familiären Ritualen, andere haben eher private oder gesellschaftliche Charakterzüge. Einige dieser Feiertage verbinden historische Erinnerung mit gegenwärtiger politischer Symbolik; andere bieten vor allem Anlass zu Feiern, Geschenken und Erholung. Die bekanntesten sind Neujahr und der Tag des Sieges, daneben gibt es Gedenk‑ und Ehrentage mit unterschiedlicher Intensität in der öffentlichen Wahrnehmung. Neujahr (1. Januar) ist in Russland das wichtigste säkulare Fest und geht weit über den einzelnen Tag hinaus: die Neujahrsperiode umfasst Silvesterabend, mehrere freie Tage bis einschließlich des alten Neujahrsdatums und wird in vielen Haushalten mit Tannenbaum, festlichem Essen, Feuerwerk sowie der Figur des Ded Moroz (Väterchen Frost) und seiner Enkelin Snegurochka gefeiert. Der Neujahrsabend ist familiär geprägt, zugleich werden im Fernsehen spezielle Programme gesendet; das Verschenken kleiner Präsente und das Lesen von Neujahrsansprachen (auch die des Präsidenten) gehören zum Ritual. Durch die Verbindung mit dem julianischen Weihnachtsdatum entsteht eine längere Ruhe- und Besuchszeit im Januar. Der Tag des Sieges (9. Mai) ist eines der wichtigsten staatlichen Feste und eine zentrale kollektive Erinnerung an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland 1945. Er wird mit Militärparaden – besonders in Moskau – Kranzniederlegungen an Ehrenmälern und der sehr populären Bürgerinitiative „Unsterbliches Regiment“ begangen, bei der Menschen Portraits ihrer Angehörigen aus dem Zweiten Weltkrieg tragen. Die Atmosphäre vereint offiziöse Inszenierung, persönliche Trauer und Stolz; für viele Familien ist der Tag Anlass, Veteranen zu besuchen und ihnen zu danken. Politisch wird der Tag häufig genutzt, um nationale Kontinuität und Einheit zu betonen. Der Tag der nationalen Einheit (4. November), eingeführt nach dem Zerfall der Sowjetunion als Ersatz für den sowjetischen Feiertag der Oktoberrevolution, erinnert an die Befreiung Moskaus von polnischen Truppen im 17. Jahrhundert. Er wird mit regionalen Festen, kirchlichen Gottesdiensten und staatlichen Veranstaltungen begangen und zielt auf das Narrativ nationaler Solidarität; die praktische Bedeutung ist jedoch regional unterschiedlich ausgeprägt, oft weniger populär als Neujahr oder der 9. Mai. Der Internationale Frauentag (8. März) hat in Russland sowohl eine lange sozialistische Tradition als auch heutige säkulare Formen: er ist ein gesellschaftlich breiter Tag des Dankes und der Wertschätzung gegenüber Frauen, an dem Blumen, kleine Geschenke und Glückwünsche üblich sind. Viele Firmen und Familien organisieren besondere Treffen oder geben Kolleginnen frei. Der 23. Februar, ursprünglich Gedenktag für die Rote Armee, hat sich zu einem informellen „Männer- bzw. Verteidigertag“ entwickelt, an dem Männer – nicht nur Militärangehörige – Glückwünsche und oft kleine Geschenke erhalten. Der 1. Mai als Tag der Arbeit hat in der Sowjetzeit große Demonstrationen und Kundgebungen geprägt; in der Gegenwart sind die Formen diverser geworden: offiziellere Feiern, lokale Festivitäten und in einigen Regionen immer noch politische Kundgebungen, daneben Freizeitaktivitäten und Familienausflüge. Daneben gibt es zahlreiche weitere Gedenk‑ und Erinnerungstage (z. B. Tage der Polizisten, Lehrer oder spezieller historischer Ereignisse), die in Verwaltung, Militär, Berufsverbänden und der Öffentlichkeit begangen werden. Insgesamt sind staatliche Feiertage in Russland ein Gemisch aus politischer Symbolik, kollektiver Erinnerung und alltagstauglichen Festanlässen: sie strukturieren Jahresrhythmen, schaffen lange Wochenenden und bieten Gelegenheiten für staatliche Repräsentation genauso wie für private Feiern. Die Wahrnehmung und Ausgestaltung einzelner Tage kann regional und generationell stark variieren, wobei Medien und staatliche Institutionen oft eine wichtige Rolle bei der Inszenierung spielen. Regionale und ethnische Feste Russland ist wegen seiner Größe und ethnischen Vielfalt ein Mosaik sehr unterschiedlicher regionaler Feste. Viele dieser Feiern entstehen aus lokalen Agrarzyklen, religiösen oder vorislamischen Praktiken und sind eng mit Sprache, Musik und traditioneller Kleidung verknüpft. Einige der bekanntesten Beispiele machen deutlich, wie stark sich Bräuche zwischen Tataren, Baschkiren, zentralasiatischen Migranten,


