Russische Feiertage: Staat, Religion, Brauchtum und Region
Kategorien russischer Feiertage Russische Feiertage lassen sich grob in mehrere überlappende Kategorien unterscheiden, die verschiedene Ebenen von Staat, Religion, Lokalität und Familie abdecken. Eine erste Gruppe bilden staatliche bzw. gesetzlich festgelegte Feiertage: dazu zählen sowohl arbeitsfreie nationale Feiertage (z. B. Neujahr, Tag des Sieges, Russland-Tag) als auch erinnerungspolitische Gedenktage, die oft mit offiziellen Ritualen, Paraden oder Kranzniederlegungen verbunden sind. Diese staatlichen Termine strukturieren den öffentlichen Kalender und sind rechtlich geregelt — nicht alle staatlich bedeutsamen Tage sind allerdings arbeitsfrei. Eine zweite, wichtige Kategorie umfasst religiöse Feiertage, vor allem jene der Russisch-Orthodoxen Kirche. Weil die russisch-orthodoxe Kirche bis heute den julianischen Kirchenkalender verwendet, fallen viele kirchliche Feste auf andere Daten als in westlichen Kirchen (etwa Weihnachten am 7. Januar). Religiöse Feiertage wie Ostern, Weihnachten oder die Epiphanie sind mit Liturgien, Fastenzeiten und spezifischen Riten verknüpft und erfahren seit den 1990er Jahren nach sowjetischer Unterdrückung einen deutlichen Aufschwung in Öffentlichkeit und Privatleben. Daneben existieren zahlreiche Volks- und saisonale Bräuche, die oft vorchristliche oder synkretistische Wurzeln haben und den Jahresrhythmus markieren: Maslenitsa als Abschied vom Winter, Ivan Kupala zur Sommersonnenwende oder Svyatki in der Weihnachtszeit mit Wahrsagereien und Volksfesten. Diese Feste sind stark ritualisiert, leben von gemeinschaftlichen Aktivitäten (Feuer, Masken, Strohpuppe, Pfannkuchen) und werden in Stadt und Land unterschiedlich gepflegt — manche wurden wiederbelebt oder folklorisiert, andere haben sich in modernen Formen erhalten. Eine vierte Kategorie sind regionale und ethnische Festtage. Russland ist multiethnisch; muslimische Feste wie Uraza-Bajram (Eid al-Fitr) und Kurban-Bajram (Eid al-Adha), tatarische und baschkirische Feste (z. B. Sabantuy), kaukasische, sibirische oder indigene Feiern prägen lokale Kalender und spiegeln sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt wider. Solche Termine können auf republikanischer oder kommunaler Ebene besonders prominent sein und unterschiedliche staatliche Anerkennung erfahren. Schließlich gehören zu den Feiertagen auch familiäre und persönliche Gedenktage: Geburtstage, Namenstage (imeniны/именины), Hochzeitstage und lokale Anlässe wie der „Tag der Stadt“. Diese privaten bzw. kommunalen Feiern regulieren soziale Beziehungen, setzen familiäre Rituale und verbinden Generationen. Insgesamt ist die reale Feiertagspraxis in Russland das Ergebnis von Überschneidungen: ein Datum kann gleichzeitig staatlich, religiös, folkloristisch und familiär bedeutsam sein, und die Art der Feier variiert stark nach Region, Generation und sozialem Milieu. Wichtige staatliche Feiertage und ihre Merkmale In Russland nehmen staatliche Feiertage eine doppelte Funktion ein: sie sind sowohl offizielle Anlässe für Staatszeremonien, Militärparaden und politische Inszenierungen als auch Gelegenheiten für familiäre Treffen, Volksfeststimmung und lokale Veranstaltungen. Viele der wichtigsten Feiertage verbinden historische oder politische Bedeutung mit klar erkennbaren Ritualen — vom Feuerwerk und offiziellen Reden bis zu Blumen‑ und Kranzniederlegungen an Denkmalen und dem Besuch von Verwandten. Das Neujahrsfest (1. Januar) ist das wichtigste und populärste Fest im russischen Jahreslauf. Die Neujahrszeit wird oft als lange Ferienperiode begangen: zwischen Ende Dezember und Anfang Januar gibt es zahlreiche arbeitsfreie Tage (häufig bis zum 7. oder 8. Januar), weshalb Familienfeiern, große Festessen, private Partys und öffentliche Feuerwerke dominieren. Ded Moroz und Snegurochka, der Neujahrsbaum (Novogodnjaja jolka), das Austauschen von Geschenken um Mitternacht sowie Fernsehshows sind zentrale Elemente. Staatlich werden zum Jahreswechsel traditionell die Neujahrsansprache des Präsidenten und diverse offizielle Veranstaltungen abgehalten. Das orthodoxe Weihnachtsfest fällt nach dem julianischen Kalender auf den 7. Januar und ist seit dem Ende der Sowjetzeit wieder ein gesetzlicher Feiertag. Für viele Menschen steht der Kirchengang am Heiligen Abend und an Weihnachten, das Fastenbrechen sowie das Besuchen von Gottesdiensten und das Aufsuchen von Ikonen im Mittelpunkt. Auf staatlicher Ebene wird der Tag weniger groß inszeniert als Neujahr, gewinnt aber seit den 1990er Jahren an gesellschaftlicher Bedeutung. Der Internationale Frauentag am 8. März hat in Russland sowohl eine historische als auch eine aktuelle soziale Bedeutung. Ursprünglich politisch als Arbeiterinnen‑ und Frauenrechte‑Tag verankert, ist er heute stark personalisiert: Frauen werden mit Blumen und Geschenken geehrt, Betriebe und Familien organisieren kleine Feiern, und der Tag ist ein landesweiter Ruhetag. Die Kombination aus offizieller Erinnerung an Gleichberechtigung und alltäglicher Freundlichkeit gegenüber Frauen macht den Tag zu einem wichtigen sozialen Ritual. Der Tag des Sieges am 9. Mai gehört zu den zentralen Elementen der russischen Erinnerungskultur. Staatliche Militärparaden (in Moskau auf dem Roten Platz), Kranzniederlegungen an Gräbern und Gedenkstätten, Ehrungen für Veteranen sowie große Volksveranstaltungen prägen diesen Tag. Seit den 2010er Jahren sind auch Bürgerinitiativen wie der „Unsterbliche Regiment“-Marsch, bei dem Menschen Fotos ihrer im Zweiten Weltkrieg gefallenen Angehörigen tragen, zu einem festen Bestandteil geworden. Symbolik, kollektive Trauer und nationale Stolz verbinden sich hier besonders stark. Der 1. Mai als Tag der Arbeit hat eine wechselvolle Geschichte: in der Sowjetzeit durch Massenkundgebungen und Paraden geprägt, hat er nach 1991 an politischer Dramatik verloren und wird heute oft als Frühlings‑ und Familientag mit Demonstrationen, Festen und Ausflügen begangen. Formell bleibt er ein gesetzlicher Feiertag, praktische Formen und Bedeutungsgehalte haben sich regional und gesellschaftlich diversifiziert. Der 12. Juni (Tag Russlands) markiert seit den frühen 1990er Jahren den Beginn der postsowjetischen Staatsform und wird als Nationalfeiertag mit offiziellen Zeremonien, Konzerten, Straßenfesten und oft mit politischen Reden begangen. Für viele ist er eine Gelegenheit staatlicher Selbstdarstellung und patriotischer Feierlichkeiten, gleichzeitig ist die populäre Resonanz unterschiedlich ausgeprägt. Der 23. Februar (Tag des Verteidigers des Vaterlandes) geht auf sowjetische Militärtraditionen zurück und wird heute vor allem als Tag der Männer begangen: Männer erhalten Glückwünsche, kleine Geschenke oder werden zu Feiern eingeladen. Offizielle Militärzeremonien und Ehrenakte finden ebenfalls statt, besonders in militärischen Einrichtungen und regionalen Verwaltungen. Neben diesen Kernfeiertagen gibt es weitere nationale Gedenk‑ und Feiertage (etwa der Tag der Einheit am 4. November), die je nach politischer Lage und staatlicher Agenda unterschiedlich betont werden. Staatliche Feiertage zeichnen sich insgesamt durch eine Mischung aus offiziellen Ritualen (Paraden, Reden, Kranzniederlegungen), öffentlichen Spektakeln (Konzerten, Feuerwerken) und privaten Formen des Feierns aus; dabei dienen sie nicht nur Erholung, sondern auch politischer Kommunikation und kollektiver Identitätsstiftung. Religiöse Feiertage und kirchliche Praxis Die Russisch-Orthodoxe Kirche nimmt eine zentrale Stellung im religiösen Leben vieler Russinnen und Russen ein; ihre Liturgie, Symbole und Jahresfeste prägen Gemeinschafts- und Familienpraxis weit über die Kirchtore hinaus. Ein wichtiger praktischer Unterschied zu westlichen Kirchen ist die Orientierung am julianischen Kalender, der gegenüber dem gregorianischen um derzeit 13 Tage zurückliegt. Deshalb fallen feste Feiertage wie Weihnachten und Epiphanie im öffentlichen Kalender auf den 7. bzw. 19. Januar (gregorianisch), während bewegliche Feste wie Ostern nach dem orthodoxen Paschalion berechnet werden und oft später liegen als im westlichen Christentum. Liturgie, Prozessionen, Ikonverehrung und das bei vielen Haushalten vorhandene „Ikoneneck“ (семейный иконостас) sind sichtbare Ausdrucksformen dieser Präsenz. Das wichtigste Fest des Kirchenjahres ist Ostern (Paskha). Die Feier beginnt mit der Großen Fastenzeit (Strastewnaja sedmiza) und setzt sich in der Karwoche sowie in der Osternachtliturgie fort: Mitternachtsgottesdienst, die feierliche Auferstehungsprozession und der dreifache Ruf „Христос воскресе!“ — „Воистину воскресе!“ (Christus ist auferstanden! — Wahrlich, er ist auferstanden!) gehören zu den zentralen Momenten. Typische Speisen sind der runde, hohe Kulich (ein süßes Hefegebäck), die quarkähnliche Paskha (Formdessert aus Hüttenkäse, Butter und Zucker, oft in Form einer Pyramide) sowie rot gefärbte Eier, die das Leben und die Auferstehung symbolisieren. Viele Gläubige bringen an Ostern vorbereitete Lebensmittelkörbe in die Kirche, um sie segnen zu lassen; die Fastenzeit beendet das Fastenbrechen am Osterfest. Weihnachten (in der orthodoxen Tradition) ist weniger dominant als Ostern, bleibt aber liturgisch und familiär wichtig. Die Festtage sind begleitet von Vespern, der Feier der Göttlichen Liturgie und dem Singen alter Hymnen; Ikonenverehrung, Kerzenlicht und Weihrauch prägen die Gottesdienste. Vor Weihnachten gibt es eine Fastenzeit, die sich auf Speise- und Genussverzicht bezieht; das eigentliche Weihnachtsmahl und familiäre Besuche markieren dann das Ende der Enthaltsamkeit. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein für Weihnachten als kirchliches und zugleich kulturelles Fest wieder verstärkt, und der 7. Januar ist in Russland inzwischen ein arbeitsfreier Tag. Epiphanie (Kreshchenie, der 19. Januar nach gregorianischem Kalender) ist vor allem für sein Ritual der Wasserweihe bekannt. In Städten und Dörfern werden Fluss- oder Teichstellen — oft mit einem ausgeschnittenen Kreuzloch im Eis, der sogenannten „Jordan“ — geweiht; Gläubige tauchen sich oder lassen sich vom Priester mit geweihtem Wasser besprengen. Für viele hat das Eisbaden rituellen Charakter und stehen Vorstellungen von Reinigung und Schutz im Mittelpunkt. Diese Praxis ist populär, wird aber auch vor dem Hintergrund moderner Gesundheits- und Sicherheitsfragen kontrovers diskutiert. Neben Ostern, Weihnachten und Epiphanie gibt es zahlreiche andere kirchliche Hochfeste, die liturgisch und lokal begangen werden: Pfingsten (Troitsa) mit dem Schmücken von Kirchen mit Grün, Mariä Entschlafung und Verklärung des Herrn, Schutz der Gottesgebärerin (Pokrow, 14. Oktober) als populäre Marienfestsform sowie viele Tagesgedenken von Heiligen, Klosterjubiläen und Patronatsfeste in Gemeinden. Diese Feste strukturieren das Kirchenjahr, bestimmen Pilgerfahrten zu Klöstern (z. B. Sergijew Possad, Pskow, Walaam) und fördern lokale Volksbräuche — etwa Prozessionen, Ikonentransporte und gemeindliche Festessen. Die kirchliche Praxis hat eine wechselvolle Geschichte: Während der Sowjetzeit kam es zu massiver Repression, Schließung von Kirchen und Verfolgung von Klerus und Gläubigen, wodurch öffentliche religiöse Praxis stark eingeschränkt wurde. Seit den 1990er Jahren erlebt die Orthodoxie in Russland ein deutliches Wiederaufleben: Kirchen werden restauriert, Gottesdienste sind wieder allgemein zugänglich, das öffentliche Leben und Staat repräsentieren zunehmend orthodoxe Symbole und Kooperationen. Gleichzeitig bleibt die Religiosität heterogen — vom intensiven Gemeindeleben bis zu kulturell geprägter „nominaler“ Religiosität — und die moderne Praxis verbindet traditionelle Liturgie mit zeitgenössischen Debatten über Sinn, Ritual und öffentliche Rolle der Kirche. Volksbräuche und saisonale Feste Die Volksbräuche rund um Jahreszeiten und Naturrhythmen bilden in Russland eine lebendige Schicht kultureller Praxis, in der vorchristliche Motive, orthodoxe Feste und moderne Formen des Feierns eng verwoben sind. Besonders sichtbar werden diese Traditionen bei den großen saisonalen Zyklen: dem Ende des Winters und dem beginnenden Frühling, der Sommersonnenwende, der Weihnachtszeit sowie der Erntezeit. Die Rituale sind oft gemeinschaftlich, stark ritualisiert und bedienen Themen wie Fruchtbarkeit, Reinigung, Gemeinschaftsbindung und die symbolische Beherrschung von Naturgewalten. Maslenitsa, die „Pfannkuchenwoche“, markiert den Übergang vom Winter zum Frühling und fällt in die Woche vor der Großen Fastenzeit. Bliny (dünne Pfannkuchen) als „Sonnengebäck“ stehen im Mittelpunkt – sie werden reich belegt mit Butter, saurer Sahne, Kaviar oder Marmelade und bei Familien, Freunden und auf Märkten geteilt. Typische Aktivitäten sind Schlittenfahrten, Ringkämpfe, Volkslieder und das Errichten sowie Verbrennen einer Strohpuppe als Personifikation des Winters. Das Verbrennen symbolisiert Abschied und Neuanfang; der letzte Tag, das sogenannte Vergebungs-Sonntag (Proschennoje woskresenije), dient dem gegenseitigen Verzeihen vor Beginn der Fastenzeit. Ivan Kupala, das Fest der Sommersonnenwende, hat starke heidnische Wurzeln und wird traditionell in der Nacht um den 6./7. Juli gefeiert. Feuer- und Wasserrituale prägen die Nacht: Lagerfeuer dienen der Reinigung, Paare springen gemeinsam über Flammen als Liebes- und Fruchtbarkeitszeichen, und junge Frauen flechten Blumenkränze, die anschließend in Flüsse oder Seen gesetzt werden; die Richtung und das Verhalten der Kränze sollen Auskunft über Heirat und Zukunft geben. Der mythologische „Farnblüten“-Aberglaube, nach dem nachts eine geheimnisvolle Blume besondere Kräfte verleiht,


